BLINDE FOTOGRAFEN

Wie sehen Bilder aus, die Blinde fotografieren? In Berlin gibt es heute ein Fotostudio für blinde Fotografen und eine Ausstellung mit wunderbaren Arbeiten von blinden Bilder- machern. Zeit für eine genauere Betrachtung!

MaryHartwigsBild„DerSchrei“ wurdevonderFotokünstleinim Berliner„Fotostudiofürblinde Fotograf*innen“inszeniert.

»WIEGROSS­ ARTIGLICHTIST, VERSTEHSTDU ERST,WENNDU ERBLINDETBIST.«

SONIA SOBERATS

Selbstportrait vonEvgenBavčar.Ergiltals Wegbereiter blinder Fotokünstler.

Bruce Halls Lebenselixierist Wasser. Es findet sich auf fast allen Aufnahmen,egal oberseineKinder beimPlanschen oder beim Tauchen fotografiert.

»ICHBINEINVISUELLER MENSCH.ICHKANNBLOSS NICHTSEHEN.«

PETE ECKERT

Im Alter von weit über 80 Jahren inszeniert die New Yorkerin SoniaSoberatsihreBilderperLightpainting.

TEXT PETER MICHELS

Viele Fotografen sind in irgendei ner Form von einer Sehschwäche betroffen. Die Kameratechnik hat uns jedoch früh Hilfsmittel bereitgestellt, um beispielsweise das Scharfstellen zu vereinfachen. Bis zur Erfindung des Autofokus war das Scharfstellen auf der Mattscheibe für weitsichtige Menschen noch extrem mühsam. Ihre Augen ermüden schnell und nicht selten zeigten die resultierenden Aufnahmen eine leichte Unschärfe. Unser Gehirn hat über die Jahre gelernt, fehlerhafte Signale zu korrigieren. Wir sehen nicht mit den Augen, sondern erst mit Hilfe der Datenverarbeitung unseres Gehirns. Eine Sehschwäche ist also kein Grund, nicht zu fotografieren. Albert Watson, einer der bekanntesten Modefotografen der Welt, ist seit seiner Geburt auf einem Auge blind. Wer heute als blind bezeichnet wird, ist Definitionssache. Je nach Land gilt jemand bereits als blind, wenn er noch 40 Prozent des „normalen“ Sehvermögens besitzt. Eine Abgrenzung von „total blind“ zu „sehbehindert“ ist schwierig. Zu erblinden heißt nicht, dass man das Gesehene oder seine visuelle Vorstellungskraft verliert. Bilder entstehen und bleiben im Kopf.

DIALOGISCHEARBEITSWEISE

Evgen Bavčar wurde 1946 im heutigen Slowenien geboren. Im Alter von elf Jahren spielte er mit dem Zünder einer Landmine aus dem Zweiten Weltkrieg und verunglückte dabei schwer. Fünf Jahre später fotografiert der vollkommen Erblindete seine Freundin. Sein Schnappschuss gelingt. Dieses Bild wird er nie sehen können – und dennoch knipst er weiter. 1975 schließt der gebildete junge Mann sein Studium der Philosophie in Paris ab. Die Fotografie gewinnt zunehmend an Bedeutung in seinem Leben. Wenn er fotografiert, dann erfühlt er sein Motiv mit den Händen, die bei seinen Langzeit- und Mehrfachbelichtungen oft in den Bildern auftauchen. In den Neunzigern lichtet der Slowene seine Modelle in absoluter Dunkelheit ab, während er deren Körper mit einer Lichtröhre beleuchtet. Lightpainting, das Modellieren mit Licht, bildet die Basis der meisten Arbeiten dieses Fotokünstlers. Bavčars analoge Filmstreifen werden im Fotolabor entwickelt, die dort angefertigten Kontaktabzüge lässt er sich detailliert beschreiben. Dieser intensive Kommunikationsprozess wird wiederholt, bis der Fotograf sicher ist, dass ihm ein gutes Bild vorliegt.

Eine dialogische Arbeitsweise ist auch für viele andere blinde Fotografen die Ausgangsbasis ihres künstlerischen Schaffens. Der gelegentlich angebrachte Kritikpunkt, dass sie für ihre Bilder einen Dolmetscher benötigen, erscheint kleinlich und irreführend. Der Diskurs ist schließlich ein wichtiger Teil des kreativen Arbeitsprozesses der meisten Künstler.

EvgenBavčars Bild „Narzissohne Spiegel“lädtzum Nachdenkenüber das eigeneSelbst- bildnisein.

»ICHWILLMEINEN BLINDENBLICK REPRODUZIEREN.«

GEROLD PIRNER

UNGESEHENEBILDER

Der deutsche Filmproduzent und Kame-ramann Frank Amann ist 2011 bei Recherchen auf die Wanderausstellung „Sight Unseen“des CaliforniaMuseumofPhotography in Riverside gestoßen, bei der 15 blinde Fotografen ihre Arbeiten präsentierten. Amann war derart fasziniert von deren Bildideen, dass er den Kontakt zu Pete Eckert aus San Francisco und Bruce Hall in Santa Anna suchte. Überzeugt von der Kreativität dieser Künstler, beschloss er, einen Film über blinde Fotografen zu drehen. Seine Dokumentation „Shot intheDark“wurde 2016 veröffentlicht. Der Film ist ein Lehrstück über das Sehen und Planen von Aufnahmen, in dem Amann die Arbeitsweisen dreier Fotokünstler dokumentiert. Neben Eckert und Hall ist auch die New Yorkerin Sonia Soberats vertreten. Die gebürtige Venezolanerin erblindete mit 57 Jahren. Erst danach begann sie zu fotografieren. Mit über 80 Jahren skizziert sie heute ihre aufwendigen Szenarien, die sie dann in Langzeitbelichtungen mit Lightpainting umsetzt.

Für Bruce Hall bringt die Fotografie einen neuen Zugang zur Welt. Er ist so kurzsichtig, dass seine Augen nur noch wenige Zentimeter scharf fokussieren können. Die Welt, das Leben sieht Hall durch den Sucher seiner Kamera.

Pete Eckert ist ein visueller Mensch, der Architektur und Bildhauerei an der YaleUniversitystudierte, als bei ihm eine Netzhautablösung festgestellt wurde, die ihn langsam erblinden ließ. Jahre später findet er in einer Schublade im Haus seiner verstorbenen Schwiegermutter eine alte Kodak-Kamera. Dass diese eine

Einstellung für Infrarotfotos hat, fasziniert ihn. Er überlegt. Was wäre, wenn er als Blinder unsichtbares Licht fotografieren würde? Eckert wendet sich wissbegierig an eine Fotohändlerin, die ihn berät und ihm schließlich eine alte Mamiya-Kamera schenkt. Er nutzt das ganze Spektrum von Orientierungsmöglichkeiten, tastet sich unterwegs mit dem Blindenstock voran. Mit Schnippen und Klatschen erfasst er die Größe eines Raumes. Wo ein Sehender den Zufall genießen würde, kalkuliert er bei Doppelbelichtungen die Lichtmenge sorgfältig. Denn auch für blinde Fotokünstler gilt natürlich: Zu viel Licht zerstört das Bild.

DASSTUDIODERBLINDEN

Für den Berliner Essayisten Gerald Pirner ist der „blinde Blick“ die besondere persönliche Sichtweise. Im Alter von 28 Jahren wurde bei ihm dieselbe Augenkrankheit wie bei Eckert diagnostiziert. Seine Liebe zur Kunst und zum Film erfährt eine große Zäsur. Trotzdem hat er weiter viele Bilder im Kopf. Motiviert durch Amanns Dokumentarfilm laden Pirner und Mary Hartwig die Fotografin Sonia Soberats zu einen Workshop nach Berlin ein. Hier lernen sie Tricks und Kniffe, um auf ganz besondere Art und Weise Bilder zu machen. Im Sommer 2018 gründet Pirner mit Gleichgesinnten das gemeinnützige Fotostudio für blinde Fotografen*Innen – ein Fotoatelier, das speziell für Sehbehinderte eingerichtet ist. Unterstützt wird das Projekt durch die „AktionMensch“.

Das Fotostudio bietet Künstlern die nötige blindengerechte Einrichtung, denn eines unterscheidet die meisten blinden Fotografen von anderen: Gearbeitet wird fast ausschließlich mit Langzeitbelichtungen und Lightpainting. Licht ist auch Wärme und hier können die anderen Sinne hilfreich die eigene Vision verwirklichen, Bilder quasi erspüren. Das Berliner Studio verfügt über ein Team von sehenden Assistenten, die auch als Bild- beschreiber geschult wurden. Wenn diese Assistenten auf Anweisung der Künstler den Kameraverschluss betätigen, führen diese das Licht nach ihrer Vorstellung.

Dass das nicht immer auf Anhieb klappt, ist selbstverständlich. Das wäre auch bei einem sehenden Lightpainter nicht möglich. Eines zeigt sich jedoch hier wie bei anderen blinden Fotografen: Mit Hilfe des Mediums Fotografie werden bei ihrer Arbeit aus inneren Bildern faszinierende Seelenbilder, die uns eine sonst schwer zu visualisierende „Weltsicht“ vermitteln.

 DIEAUSSTELLUNG:

„Blinde Fotograf*innen“

im f³ – Freiraum für Fotografie, Waldemarstraße 17, 10179 Berlin

Einen virtuellen Ausstellungsrundgang finden Sie hier: https://fhochdrei.org/360

DERFILM:„ShotintheDark“

Eine DVD mit Begleitschrift können Sie über www.shotinthedark-film.com bestellen.

WennBlindeinnereBilderindiesicht- bare Realität übertragen, darf man durchausvonSeelenbildernsprechen. DurchlangeBelichtungszeitenentstehenAufnahmen,diesichsehrvonder Bildwelt Sehender unterscheiden.