Gar·nicht·auf Geratewohl

Gerald Pirner ist blind – und er ist Fotograf. Die Lightpainting-Methode hilft ihm dabei.

Zusammen mit anderen blinden Fotografen

stellt er nun seine Bilder aus: ,,Was du nicht siehst“

Von UtaSchleiermacher

Wenn Gerald Pirner fotografiert, be­wegt er sich mit ei­ ner Taschenlampe durch einen kom­plett abgedun­kelten Raum. Er tastet kurz, um die Schulter seines Fotomodells zu finden, dann knipst er die Lampe an und malt mit dem Lichtstrahl den Bogen des Rü­ckens nach. Auch eine Hand und das Gesicht leuchtet eraus. Auf dem spä­teren Bild wird das matt erleuchtet zu sehen sein. Der Rest des Körpers hebt sich nur schwach vor dem dunklen Hintergrund ab. Über der Figur schwe­ben ein paar Lichtschlieren auf dem Bild, die aber diesmal eher zufällig auf die Aufnahme geraten sind.

Doch damit ist die Arbeit für den Fotografen noch nicht abgeschlos­sen. Pirner ist vollständig erblindet. Um zu überprüfen, ob das Bild so ge­worden ist, wie er es beabsichtigt hat, lässt er sich im nächsten Schritt von seiner Assistentin Heidi Prenner Bild­aufbau und Wirkung beschreiben: De­ tailliert schildert sie ihm, was zu se­hen ist, wie stark die Kontraste sind und wie die einzelnen Bildelemente zueinander stehen: dass sich hier also Hand, Gesicht und Schliere wie eine Diagonale durchs Bild ziehen. Wenn das Foto seiner Vorstellung noch nicht

  • entspricht, macht Pirner einen neuen Versuch, nimmt vielleicht eine andere Taschenlampe mit härterem oder wei­cherem Licht.

„Lightpainting“ nennt sich diese Methode, also das teilweise Ausleuch­ten und Nachmalen von Figuren oder Gegenständen, während die Kamera auf Dauerbelichtung eingestellt ist. Blinde Fotografinnen können mit die­sem gestischen Vollzug beim Bilder­ machen so weitestmöglich unabhängig von ihren sehenden Assistentln­nen Fotos machen.

Pirner, der sich auf Porträts spezia­lisiert hat, hat dadurch fast alles selbst in der Hand. Er bestimmt das Bildfor­mat und das Motiv, er bittet seine Mo­ delle meist, eine bestimmte Haltung einzunehmen, und belichtet dann die Stellen, die er möchte. So kann er seine Idee von Licht, Dunkelheit und Motiv umsetzen. Auch Selbstporträts.hat er so schon gemacht.

, ,,Jeder Fotograf braucht eine Vor­stellung, eine Vision von dem Bild, das er machen möchte‘; sagt Karsten Hein, der seit mehreren Jahren Se­minare für blinde Fotografen an der Alice-Salomon-Hochschule leitet.

,,Wenn ihm diese Vorstellung fehlt, kann er nur aufs Geratewohl drauf­ losknipsen – und auf den Zufall hof­fen. Daher gibt es so viele schlechte Fotos, sagt er. ,,Blinde Fotografen da­ gegen kultivieren diese innere Vision

und setzen sie mit einem Apparat um, zu dem bloß etwas mehr gehört als nur die Kamera selbst.“

Für Gerald Pirner ist es no.ch mehr als das. Mit dem Zerrissenen, Unvoll­ständigen auf seinen Fotos, dem An­ gefressenen, als ob etwas an den Bil­dern genagt hätte, möchte er auch eine andere Art des Sehens abbilden. So, wie er selbst im Prozess seines Er­blindens gesehen hat.

Er würde seinen Beitrag zur Foto­grafie daher weiter fassen. ,,Durch die Blinden lernen die sehenden erst richtig sehen‘; sagt er. ,,Sie überblen­den das, was sie auf den ersten Blick wahrnehmen, und ·werden auf ganz andere Dinge aufmerksam, die sie erst vielleicht gar nicht bemerkt ha­ben.“ Deren Bilder, meint Pirner, ent­stehen ja nicht allein durch den visu­ellen Eindruck. ,,Bilder sind ein Zu­sammenspiel zwischen Sehen und Sprache. Es gibt immer eine Erzäh­lung, die eingreift in das, was wir se­hen; Betrachterinnen ergänzen und füllen Leerstellen‘; sagt er.

In der Ausstellung ,,Was du nicht siehst“ in der Galerie Kungerkiez, in der die Fotos von Pirner und vier wei­teren blinden Fotografinnen nun zu sehen sind, werden die Bildbeschrei­bungen daher eine wichtige Rolle ein­ nehmen: als Ergänzung zu den gezeig­ten Fotos und bei Führungen.

Pirner möchte so auch von dem Kli­schee wegkommen, dass Blinde nichts mit Bildern anzufangen wüssten. Er selbst fühle sich geradezu „von Bil­dern überschwemmt“. Ein Effekt des Sehens sei, dass dadurch viele an­dere vorstellbare Bilder ausgeschlos­sen würden.,,Doch anders als Sehende werde ich diese Bilder nicht mehr los, sie werden nicht von dem, was ich tat­ sächlich sehe, überlagert.“ Wenn er seine Vorstellungen als Fotos fixiert, ist das.auch wie ein Versuch, diese in­nere Bilderflut zu kanalisieren.

,,Wasdunichtsiehst“

In der Ausstellung „Was du nicht siehst“ werden in der Galerie Kungerkiez in Treptow fünf blinde Fotografinnen präsentiert. Vernissage in der Karl-Kunger­ Straße 15 ist am Freitag, 9. März, um 19 Uhr. Zu sehen ist die Schau bis 31. März, immer Donnerstag bis Sonntag von 15 bis 19 Uhr. Führungen nach Vereinbarung.

Zu sehen sind bei „Was du nicht siehst“ Fotos von Susanne Emmermann, Mary Hartwig, Silja Korn,

Andreas Krüger und Gerald Pirner. Die Fotografinnen sind an vielen Tagen in der Galerie anwesend und zeigen, wie sie arbeiten. Dazu haben sie ein temporäres Lightpainting-Studio eingerichtet. in dem sich Besuche­ rinnen porträtieren lassen können – das jeweils samstags und sonntags um 15 Uhr. (usch)