Dienstag, 3. Januar 2023
Werkstatt für interkulturelle Medienarbeit in Schöneberg bietet bundesweit einzigartig ein Fotostudio für Blinde an
Sabrina Szameitat
Gerald Pirner steht in einem mit schwarzen Vorhängen abgedunkelten Raum. Nur eine Taschenlampe spendet warmes Licht. Langsam beleuchtet er seine Arme und sein Gesicht mit der kleinen Lampe. Eine Kamera zeichnet seine Bewegungen auf. Später wird dort auf dem Display ein Selbstporträt des 65-Jährigen zu sehen sein. Die Haare und das Gesicht leuchten in einem satten Gelb. Firner selbst weiß das nur aus detaillierten Beschreibungen – denn der Fotograf ist zu 100 Prozent blind.
Bilder erschaffen, ohne etwas zu sehen? Das ist kein Widerspruch. Genau das können blinde Menschen seit 2018 in einem Fotostudio in Schöneberg umsetzen. Die Idee kam dem Initiator Karsten Hein von der Werkstatt für interkulturelle Medienarbeit (WIM eV), nachdem er vor rund zehn Jahren angefangen hatte, mit Blinden in Workshops zu arbeiten.
Nach seinen Angaben ist das Studio das einzige seiner Art in Deutschland, in dem die Fotografie als Kulturtechnik für Menschen ohne visuelle Wahrnehmung vermittelt wird. ,,Das Besondere ist: Wenn man zusammenarbeitet, kann man ihnen die visuelle Welt zurückerobern“, findet Hein. Die innere Vorstellungswelt Blinder sei so präzise ausgeprägt, dass sie sehr genau wüssten, was sie umsetzen wollen.
Dies habe ihn schließlich auch bei seiner Bildfindung geprägt, wie sich bei einigen seiner Fotowerke beobachten lässt. Auf einem Porträt aus dem Jahr 2020 ist zum Beispiel eine Frau zu sehen, deren rechte Gesichtshälfte von einem Licht angestrahlt wird. Die linke Seite liegt hingegen im Dunkeln.
Erinnerungen an die Zeit vor seiner Erblindung unterstützen ihn, sich die Welt optisch vorzustellen, wie Pirner erklärt.
,,Ich bin auch im mer wieder am Er spüren oder versuche Bilder, die ich gesehen habe, noch mal zu realisieren, ein Remake zumachen.“
Heidi Prenner hilft ihm dabei. Ihre Arbeit mit Pirner habe auch den Blick auf Kunst verändert: ,,Ich sehe anders, wenn ich mit Gerald unterwegs bin und ihm Bilder beschreibe, das ist ganz eindeutig. Also ich sehe bewusster.“ Es gebe bestimmte Regeln, an denen man sich bei einer Bildbeschreibung für Blinde orientieren kann. Zum Beispiel: Welchen Eindruck habe ich von dem Bild? Welches Format hat es, gibt es ein zentrales Motiv? Wichtig sei es, nicht im Bild hin- und her zuspringen, sondern etwa im Uhrzeigersinn zu beschreiben.
In der Praxis funktioniert dies in Teamarbeit und mit dem sogenannten „Lightpainting“. Die Kamera steht auf einem Stativ und wird auf Langzeitbelichtung gestellt. Vor der Kamera zeichnet der Fotokünstler während einer längeren Zeit spanne etwa mit einer Taschenlampe bestimmte Motive. Auf diese Weise entstehen Lichtmuster. Hinter der Kamera steht eine Assistenz, die den Auslöser drückt und das Foto am Ende genau beschreibt.
Ein wichtiges Angebot, wie der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin findet: ,,Bei der Fotografie bietet die Langzeitbelichtung die Möglichkeit, auch ohne sehen zu können, Einfluss auf das fotografische Ergebnis zu nehmen“, betont eine Sprecherin. Laut der Schwerbehindertenstatistik gibt es in Berlin dem nach 26.375 blinde und sehbehinderte Menschen, in Deutschland sind es nach Hochrechnungen aus WHO-Zahlen rund 1,2 Millionen Menschen.
Allerdings gebe es keine verlässlichen Zahlen zu Sehbehinderungen und Blindheit, teilt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband mit. Blinde Fotografie sei ein interessanter Ansatz und eher eine Nischenaktivität. Den Angaben des Verbands nach gibt es in Deutschland keine vergleichbaren Projekte.
Gerald Pirner porträtiert ach eigenen Aussagen gerne Menschen. Der 65-Jährige kommt mit seiner Assistentin Heidi Prenner seit mehreren Jahren regelmäßig in das Fotostudio. ,,Es hilft mir, in meiner eigenen Wahrnehmung weiterzukommen“, sagt er. Seit über 40 Jahren lebt er in der Hauptstadt. Durch die Fotografie könne der Essayist seinen inneren Bildern einen Ausdruck verleihen und wolle sehenden Menschen zeigen, wie Blinde die Welt wahrnehmen.
Daher sind Bilder auch ein Dialog für ihn: ,,Und das find‘ ich spannend.“ Die blinde Wahrnehmung ist laut Pirner fragmentarisch und geprägt von „etwas immer Unfertigem, dem nicht ganz Vorhandenen“. Fragmente habe er auch zu nehmend gesehen, als er durch eine Degeneration der Netzhaut im Jahr 1989 erblindete. ,,Die Netzhaut zerfällt, aber das macht sie nicht auf einmal, sondern das macht sie mit der Zeit. Das heißt, die Bilder zerfallen“, erzählt er.
„Ich habe Menschen angeschaut, und ihnen hat die Hälfte vom Gesicht gefehlt.“
Ab Anfang Januar sind laut Karsten Hein bis Juni wechselnde Ausstellungen in zwei großen Schaukästen im U-Bahnhof Kleistpark in Schöneberg geplant. Dort sollen Lightpainting-Fotografien von Pirner gezeigt werden. Er selbst möchte mit künstlerischen Aktionen vor Ort einen neuen Zugang für seine Werke schaffen.
„Ich versuche über Performance, mich an sie anders heranzuschleichen, und sie noch mal ganz anders zu denken.“ Auf diese Weise soll das entstehen, was Firner bei seinen Bildern besonders wichtig ist: nämlich ein Dialog. dpa